Schule neu denken
„Wie kann der Vogel, zur Freude geboren,
Im Käfig noch ans Singen denken“
(William Blake)
„Il 73% dei nostri ragazzi sta male”…Wenige Wochen vor Beginn des Corona-Notstandes im Frühling 2020 hat die Paduaner Universitäts-Dozentin Daniela Lucangeli eine Studie zur Befindlichkeit der Kinder in den Schulen Italiens vorgestellt.
Im Auftrag des Unterrichtsministeriums hatte Lucangeli gemeinsam mit anderen Fachleuten das Wohlbefinden bzw. Unbehagen der Schüler untersucht, mit niederschmetternden Ergebnissen: „Ingozziamo i ragazzi di prestazioni, colpa e paura sono le emozioni alla base del nostro sistema educativo…Il nostro sistema educativo è basato sull´avere paura degli errori, dell´insegnante o della verifica”.
Im allgemeinen Schul-Chaos des Lock-Downs hatte sich kaum jemand um diese Fragen gekümmert, obwohl gerade diese Krisensituation ein guter Anlass gewesen wäre, Schule und Bildung neu zu denken.
Die Situation hat sich in der Zwischenzeit verschlechtert. Ob es nun 20% sind oder 30%: Immer mehr Kinder und Jugendliche wollen nicht mehr in eine Schule gehen, in der sie als Menschen in ihren unterschiedlichen Entwicklungsprozessen nicht ernst genommen werden, in der ihnen weder Rückhalt gegeben noch angemessene Lernbegleitung angeboten wird.
Schulverweigerer sind keine Lernverweigerer! Die Ursachen der Schulflucht liegen meist nicht in einem „Fehlverhalten“ oder in „Defiziten“ der Kinder/Jugendlichen, sondern in einem System, das auf Gleichschaltung programmiert ist und keinen Raum für persönliche Lernwege bietet.
„Unser Schulsystem ist ein Auslaufmodell. Ein schwerfälliger Tanker, ein marodes Gebäude.“ Mit diesen Worten beschrieb Alexandra Aschbacher, Chefredakteurin der FF, in ihrem Leitartikel der Juliausgabe 2020 den Stand der Dinge. Ihre Forderung: Die Schule muss „neu gedacht“ werden: d.h. grundlegende Veränderung in Organisation und Leitung von Schule, Veränderung im Lernen und Lehren, weg von den starren Stundenplänen, Entrümpelung der Lehrpläne und Prüfungsformate, weg vom exzessiven Frontalunterricht und vom Abfragen auswendig gelernter Inhalte. (Alexandra Aschbacher hat mir freundlicherweise den Link zum Artikel zugeschickt- link)
Obwohl sich viele Schulleute, vom Schulamt über Direktoren, Lehrer und vor allem Schüler, der Unzulänglichkeiten dieses Schulsystems bewusst sind, fehlt augenscheinlich der Mut und die Kraft, den „schwerfälligen Tanker“ durch leichte, agile und flexible Boote zu ersetzen.
Alle berufen sich auf staatlich vorgegebene rigide Rahmenbedingungen, die kaum flexiblen Navigationsraum ermöglichen. Doch können diese Bedingungen auch verändert werden, wenn der Wille dazu da ist.
Aschbacher schreibt in ihrem Artikel vom mangelnden Mut der Südtiroler Politiker: „Rom und die Frage der Kompetenzen zieht nicht mehr als Ausrede. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass vieles plötzlich möglich ist, von dem man dachte, es sei auf ewig unmöglich“.
Bildungspluralismus? Es geht aus meiner Sicht dabei nicht um die Einführung neuer Fächer wie „gesellschaftspolitische Bildung“ oder „Umwelterziehung“; denn die bisherige Praxis hat gezeigt, dass es sich dabei allzu um eine Farce handelt. Viel wichtiger ist ein Umdenken in Richtung Persönlichkeitsentwicklung, Bildung zur Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Dem Kind die Möglichkeit bieten, dass es seine Fähigkeiten und Stärken seinem inneren Bauplan entsprechend entwickeln kann.
„Das Kind das nie gelernt hat, allein etwas zu tun, seine eigenen Handlungen zu lenken und seinen eigenen Willen zu beherrschen, erkennt man im Erwachsenen wieder, der sich lenken lässt und der Anlehnung an andere benötigt“, so die bekannte Erzieherin Maria Montessori, deren 150. Geburtsjahr im Vorjahr mit großem Pomp gefeiert wurde. (*)
Unterrichtsminister Patrizio Bianchi hat eine grundlegende Reform des Schulwesens angekündigt. Wie diese aussehen soll, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Doch wenn eine solche Reform ansteht, wäre es höchste Zeit, dass sich die Südtiroler Bildungsmanager und Parlamentarier dafür einsetzen, dass die Voraussetzungen für einen echten Bildungspluralismus geschaffen werden. Für ein Schulsystem, das wirklich den Prinzipien der Art. 30, 33 und 34 der Verfassung entspricht; d.h. Erziehungsrecht der Eltern, Freiheit von Wissenschaft und Kunst, eine offene und Allen zugängliche Schulbildung. Diese sollte und müsste auch eine angemessene finanzielle Unterstützung all jener Schulen und Schulprojekte gewährleisten, die neue und andere Wege zum Wohle der Kinder gehen.
Covid hat das schon prekäre Schulsystem an seinen Grundmauern erschüttert; doch gibt es – wie Lucangeli schreibt – eine Pandemie, die langfristig viel schwerwiegendere Folgen haben kann: „Nelle classi italiane è in corso una pandemia di disturbi“. Ihre Untersuchungen haben ergeben, dass durchschnittlich in einer Schulklasse mit 25 Kindern 4 bis 5 Kinder in ihrer neuronalen, psychischen und physischen Entwicklung gestört sind.
Aufgrund der Erfahrungen bisheriger Reformprojekte ist anzunehmen, dass man in Zukunft Schulbildung noch mehr in Richtung „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Marktkompetenz“ ausrichten wird. Mit nicht absehbaren Schäden für Menschen und Gesellschaft.
(*) Maria Montessori hat im weitesten Sinne die „Bildung zur Nachhaltigkeit“ in den Mittelpunkt ihrer Erziehungstätigkeit gestellt. „Ziel der von ihr so benannten „Kosmischen Erziehung“ ist es, den Kindern den Weg zu zeigen, sich selbst fröhlich und voller Neugier die Welt zu erobern und dann allmählich zu lernen, für diese Welt und für sich selbst einen eigenen Anteil an Verantwortung zu übernehmen. Der Kosmos, das ist die ganze Welt, in der wir leben, das Universum, unser Planet Erde, Sonne, Mond, Licht, Tag Nacht, Luft, Wasser, Feuer, die Pflanzen und die Tiere und selbstverständlich wir Menschen mit unserer Kultur und Geschichte. Nicht zuletzt sollen wir Erwachsene – das war Montessoris dringlichster Wunsch – die Kinder zu den Einsicht und dem Gefühl hinführen, dass in dieser Welt alles miteinander zusammenhängt, voneinander abhängig und aufeinander angewiesen ist, dass Kosmos von alters her eigentlich Ordnung, Harmonie und Schönheit bedeutet. (aus Hans-Dietrich Raapke – Montessori heute)
Lieber Arno,
zufällig bin ich auf Dein schönes Video gestoßen! Herzliche Grüße aus dem unruhigen Ruhestand!
Peter