Zurück ins erwachte Dorf

campanile

Vor rund 20 Jahren (August 1995) hatte ich für die Wochenzeitschrift „FF“ unter diesem Titel einen Beitrag geschrieben, den ich jetzt auf meiner Webseite erneut zur Diskussion stelle.

Es geht mir dabei weniger darum festzustellen, was in den letzten Jahren passiert bzw. nicht passiert ist; wichtig ist mir die Bedeutung des Dorfes und des ländlichen Raumes im Allgemeinen aufzuzeigen. Die Habitat III – Weltkonferenz der UNO bereitet sich im Herbst auf die Frage vor: Wie können die Städte der Zukunft, in denen 70% der Weltbevölkerung leben werden, zukunftsfähig und menschenwürdig gestaltet werden? Mir scheint, dass aber gleichzeitig die Frage vertieft werden sollte: Was kann getan werden, damit möglichst viele Menschen gar nicht erst in die Städte flüchten müssen? Es geht dabei nicht nur ausschließlich um die materielle Dimension des Überlebens, sondern auch um die Vorstellungen und Visionen von einem „Guten Leben“; d.h. um eine kulturelle Auseinandersetzung zu dem was „gut“ und „wichtig“ ist.

Es folgt der (leicht gekürzte) Text des FF-Artikels (Nr. 34 – 19. August 1995)

„Heimat„ nach dem Scheitern der Moderne?

Ein Vorschlag

Wer immer für „Fortschritt“ war und sein geistiges Zuhause in der Großstadt sah, gerät in Erklärungsnotstand: Der Geist der Moderne ist verblasst. Führt der Weg nach vorne zurück aufs Land? Was wäre dann mit den Errungenschaften der Moderne?

Die vielen Krisen weltweit haben zur „Entzauberung der Moderne“ geführt; der offene globale Markt hat seinen Charme verloren. Nicht nur im Süden der Welt platzen die Trugbilder einer nachholenden Entwicklung nach westlichem Vorbild. Frustrierte Wohlstands-Hoffnungen machen sich mit Waffengewalt Luft, und die zum reinen Verwertungsobjekt degradierte Natur reagiert auf ihre Weise

Alte Sicherheiten bröckeln ab, Angst macht sich breit und damit auch die Flucht ins vermeintlich Sichere: Der Rückzug ins Kleine, noch Überschaubare.

Ein nur scheinbar paradoxes Phänomen: In einer Welt ohne Grenzen entwickelt sich immer mehr ein Bedürfnis nach Heimat. Im globalen Markt entwickeln sich, vor allem dort wo es weltwirtschaftliche Peripherien gibt, schon längst totgeglaubte Formen von Subsistenz- bzw. Überlebenswirtschaft, die althergebrachte Traditionsbestände an Solidarität und Gemeinschaftssinn reaktivieren. In einer neuen „existentiellen Vernunft“ werden – als Gegenstück zur instrumentellen Vernunft des Marktes – fundamentale geistige, gesellschaftliche und menschliche Werte wiederentdeckt.

Für Südtirol scheint das Thema des „Zurück ins Dorf“ alles eher als neu: Dorf und Heimat als Bollwerke gegen die Moderne; Heimat und Zusammenhalt als Schutz in einem fremden Land, als Schutz vor Überfremdung der Sprache und Kultur. Erst reichlich spät besann man sich der Heimatrechte der „anderen“, im Lande Lebenden; und selbst heute noch ist gar nicht so klar, ob und wie viele Italiener mitgenommen werden sollen in eine neue regionale „Heimat“ in Europa.

Die Heimat lag im „geschlossenen Hof“, eine reine Männerdomäne; Heimat war Ausdruck für Abscheu vor der Fabrik, fürs Bewahren alter Machthierarchien im Dorfe. In seinen Schattenseiten ist alles schon dagewesen und bekannt: Argwohn gegen alles Fremde, Scheu vor Offenheit, kulturelle Abkapselung, Hetze gegen Andersdenkende.

Aber: Geht es vielleicht auch anders? Liegt nicht gerade im Dorf die Chance für eine funktionsfähige, ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Keimzelle für das neue Europa? Haben wir, die wir so stark von Moderne und Aufklärung geträumt haben, den Traum denn ganz umsonst geträumt?

Südtirol ist, bedingt durch seine Geschichte und durch seine besonderen ethnischen Gleichgewichte, nie ganz „modern“ geworden. Eine einmalige Gelegenheit für uns zu einem besonderen Brückenschlag: Zur Synthese zwischen der alten Heimat mit ihren Werten des Gemeinschaftslebens und jenen Elementen des aufgeklärten Denkens, die hinübergerettet werden sollten bei der „Rückkehr in die Zukunft“.

Gewiss, einige Auswüchse der Moderne haben auch Südtirol längst überrollt: Autobahnen, Schnellstraßen, Konsumwelle, „Entzauberung vieler traditioneller Lebensbereiche“, sofern sie nicht gerade in Tourismuswerbung passen.

Südtirol lebt vom und bereichert sich am internationalen Personen- und Warenverkehr, an Touristen und Obst. Auch in Südtirol gibt es einen modernen und vergleichsweise recht gut funktionierenden Sozialstaat und öffentlichen Verwaltungsapparat.

Doch gibt es gleichzeitig auch viele Ansätze, die in eine andere Richtung weisen, die Hoffnung geben für die Realisierbarkeit der Vision eines „erwachten Dorfes“. Gegen eine weitere „Modernisierung“ und gegen die Beschleunigung des motorisierten Verkehrs wird tüchtig gekämpft; es gibt viele Ansätze zu einer Landwirtschaft mit menschlichem Maße, für eine Aufwertung der handwerklichen Fähigkeit und Produkte. Für die Bewahrung eines echten Gemeinschaftslebens wird einiges getan. Trotz Markt und D-Mark hat noch lange nicht alles seinen Preis. Der Südtiroler Welfare-State hat (noch) nicht alles zerstört was zwischen dem Einzelnen und dem Staate liegt. Es gibt sie noch, die Gratisarbeit, die Nachbarschaftshilfe und das Volontariat; selbst die Großfamilie ist noch lange nicht ausgestorben und auch einige Commons und Gemeinschaftsgüter überleben quasi als Relikte einer vergangenen Zeit.

Und was in der Subsistenzwirtschaft Sri Lankas die Shramadana/Sarvodayas und in Südamerika die Mingas sind, überlebt weit außerhalb der Rationalität des Marktes auch in einigen Orten des Pustertals als „Robottn“; gemeint ist die unentgeltlich geleistete Arbeit zur Verwirklichung von Gemeinschaftsprojekten im Dorfe.

Lediglich antike Relikte aus vergangenen Zeiten oder Samen für eine neue Zukunft?

Es gibt so einiges was Südtirol mit den alten und neuen Subsistenzwirtschaften im Süden der Welt verbindet: Im Lande gibt es noch Vieles „mit menschlichem Maß“; in vielen Menschen gibt es immer noch ein tiefes empathisches, ja auch spirituelles Gefühl für Zusammengehörigkeit und Einheit mit der Mitwelt; viele Südtiroler verbinden die Vision der „Bewahrung der Schöpfung“ nicht mit einer Regression zurück ins undifferenzierte Denken, sondern mit der Weiterentwicklung menschlicher Potentiale.

„Rückkehr ins erwachte Dorf“ als Ziel entwicklungspolitischen Denkens in Südtirol? Der Titel ist ein Spiel mit Metaphern, eine Einladung zur Diskussion.

Das „Dorf“ steht dabei als Bild für das Kleine und Überschaubare, für die Bewahrung und Aufwertung traditioneller Gemeinschaftsformen und – werte.

Und „erwacht“ sollte dieses Dorf sein, nicht nur weil auf einige Errungenschaften der „Moderne“ nicht verzichtet werden soll: So auf Weltoffenheit und Toleranz, auf möglichst direkte Demokratie, auf eine effektive Gleichstellung der Geschlechter, auf individuelle Entscheidungsfreiheit. Doch „Aufklärung“ allein ist zu wenig; ein „erwachtes Dorf“ beinhaltet die Fähigkeit zur Empathie, zum Eins-Sein mit der Natur, zur Weisheit.

Die Vision eines „großen erwachten Dorfes“ als einer regionalen Gemeinschaft, die in der Lage ist, sich zum Großteil selbst zu versorgen, nachhaltige Entwicklung mit möglichst geschlossenen Kreisläufen anstrebt, mit eigener Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik auch für die lange wirtschaftliche Durststrecke nach dem zu erwartenden Wirtschaftschaos in Europa?

„Heimat als Paradies – Heimat als Gefängnis“ lautet eine der Fragestellungen zu den heurigen Toblacher Gesprächen im kommenden Monat. Eine Frage, die sicherlich viele berührt, die wie ich in den 50er und 60er Jahren im Dorf aufgewachsen sind, dort die Kraft der Solidarität, der Verbundenheit, der Überschaubarkeit und Sicherheit erlebt haben, aus diesem Dorf aber geflüchtet sind, weil Andersdenkende keinen Platz darin fanden.

Kann eine neue Vision von einem „aufgeklärten“, multikulturellen Dorf geschaffen werden,, von einer Heimat, die nicht aus Angst und Abgrenzung anderen gegenüber entsteht, sondern eine offene Gemeinschaft ist, in der die Wurzeln einer neuen Kultur des Zusammenlebens gelegt werden?

Wie stehen die Chancen, dass es der zukünftigen „Europaregion Tirol“ gelingen wird, in sich die Keime dieses neuen, erwachten Dorfes zu vereinen“ Brücke zu sein, nicht nur sprachlich und kulturell, sondern auch weltanschaulich, in einer Aufhebung der alten Dichotomie zwischen Tradition und Moderne?

Arno Teutsch

FacebookTwitterGoogle+Share

2 Responses to Zurück ins erwachte Dorf

  1. Elisabeth Hofer scrive:

    (…)Ich denke, dass wir angehalten sind, auch in den Städten “Dorf-Qualitäten” zu entwickeln. Mit Interesse verfolge ich daher die Projekte von “social-street”, welche sich in italienischen Städten (Bologna u.a.) etablieren. Wenn wir nicht lernen mehr zusammenzuschauen, werden wir keine lebenswerte Zukunft haben. (…) Elisabeth Hofer

  2. Wolfgang Tatti/Grosseto scrive:

    (…)Zu den Städten der Zukunft:

    der so verlockende Materialismus wird sich weiter mächtig ins Zeug legen uns im Griff zu behalten.

    Ein immer wieder vergessener Ansatz ist die Erziehung. aber auch die folgt normalerweise ja „wissenschaftlichen Tatsachen“…

    Trotzdem: die Kinder nehmen unbefangen auf und in den ersten Jahren sind sie begierig die Erwachsenen nachzuahmen. selber war ich 8 Jahre lang Gartenbaulehrer an einer sich begründenden Waldorfschule. wie freudig und wissbegierig die Kinder da mitgeschafft haben! Endlich eine Arbeit die den ganzen Menschen fordert und fördert. Alle Sinne werden unmittelbar angesprochen und die Erlebnisse prägen sich tief ein.

    Auf der anderen Seite weiss ich, dass es eine inzwischen „wissenschaftlich“ anerkannte Krankheit in Amerika gibt: „Die Angst vor der Natur“. Die amerikanische Abkürzung weiss ich nicht mehr. Da gibt es z. B. Menschen, denen es unerträglich ist, auf einer Wiese zu sitzen wegen all der unbekannten Gefahren die da lauern.

    Und genau das kann oder wird die Menschen weiter trennen und es den Stadtentwicklungsdenkern schwer machen. Du wirst kaum markengestylte jung-erfolgreich-um-alles-in-der-welt-anerkanntsein-wollende Mittzwanziger und aufwärts dazu bekommen sich aktiv an der praktischen Umgestaltung oder Verlebendigung der Erde zu beteiligen.

    Ich kenne solche und da herrscht die Meinung, dass es ausreicht die neuesten Hypes aus der Naturkostszene einzukaufen oder vielleicht ein Elektroauto, um damit ihr grünes Mäntelchen zu dokumentieren.

    Es ist meiner Meinung nach wichtig, vor allem jüngeren Menschen einschneidende Erlebnisse zu verschaffen die deutlich machen, wie unsere Lebensverhältnisse mit der sogenannten Natur zusammenhängen.(…).

    Wolfgang Tatti/Grosseto

Rispondi a Elisabeth Hofer Annulla risposta

L'indirizzo email non verrà pubblicato. I campi obbligatori sono contrassegnati *

È possibile utilizzare questi tag ed attributi XHTML: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>